SMART IN FLOW CONTROL

Echte prädiktive Wartung dank innovativer Topologie

Interview aus dem atp magazin 08/2018

Mit der Übernahme des israelischen Start-ups Visual Process Ltd. bietet die SAMSON AG seit der ACHEMA 2018 mit Precognize ein prädiktives Überwachungs- und Diagnosesystem an. Im atp-Interview erläutern Chen Linchevski, CEO von Visual Process Ltd., Dr. Andreas Widl, CEO der SAMSON AG, und Dr. Thomas Steckenreiter, Vorstand Forschung und Entwicklung der SAMSON AG, die Vorteile der neuen Technologie und warum sie eine völlig neue Qualität in Sachen Predictive Maintenance bringt.

Herr Linchevski, Herr Dr. Widl und Herr Dr. Steckenreiter, mit Precognize haben Sie das digitale Lösungsportfolio von SAMSON um ein Software-Tool zur prädiktiven Wartung ergänzt. Was macht Precognize so besonders?

Chen Linchevski: Mit Precognize sind wir in der Lage, den gewaltigen Datenberg eines Industrieunternehmens umfassend zu analysieren und tief in der Anlagenstruktur verwurzelte Fehler und Anomalien zu erkennen und zu beheben.

Dr. Andreas Widl: Darüber hinaus ist es mit dieser Technologie jetzt möglich, das enorme Domänenwissen der Anlagenbetreiber und Bediener in einem digitalen Modell topologisch und prozesstechnisch übersichtlich abzubilden.

Dr. Thomas Steckenreiter: Bisher gab es außerdem noch keine Lösung, die in der Lage war, diese detaillierte Topologie mit den einzelnen Feldgeräten und den in den Daten dokumentierten Fehlermeldungen in Verbindung zu setzen.

Predictive-Maintenance-Lösungen sind in Zeiten von Industrie 4.0 und Smart Plants keine Seltenheit mehr. Was unterscheidet Ihre Technologie von gängigen Software-Tools?

Linchevski: Was wir mit dieser Lösung anbieten, ist echte Predictive Maintenance. Wir analysieren die Daten, finden Abweichungen und können sie in Beziehung zu bestimmten Feldgeräten setzen. 

Wie genau funktioniert das?

Linchevski: Sie können z. B. Störungen oder Ausfälle eines Ventils nicht zuverlässig vorhersagen. Was sie aber anhand der aufgezeichneten Daten der Sensoren dieses Ventils erfassen können ist, dass sich die Messergebnisse verändern. Die Abweichungen, bei uns Anomalien genannt, häufen sich.

Abweichungen entdecken können auch viele bereits erhältliche Tools.

Widl: Das ist richtig. Das Problem bleibt allerdings, dass diese Software-Lösungen dem Anlagenbetreiber diese Anomalien ungefiltert anzeigen. Er weiß dann zwar, dass etwas nicht richtig funktioniert, kann aber immer noch keine richtige Aussage darüber treffen, was genau die Ursache dafür ist. Unsere Technologie kann ihm bis auf die Sensorebene genau sagen, wo der Fehler liegt.

Wie ist das möglich?

Linchevski: Wir haben mit SAM GUARD auf der Basis von Precognize ein Software-Werkzeug entwickelt, mit dem wir die Topologie einer Maschine, einer Anlage oder sogar eines gesamten Werks erfassen können. Dafür scannen wir die Anlage rund zwei Wochen lang und lernen dabei, welche Prozesse vom Anlagenbetreiber wie durchgeführt werden. Am Ende können wir genau sagen, welches Ventil und welcher Sensor, in welche Prozesse eingebunden ist.

Sie erstellen gewissermaßen eine Art digitalen Zwilling der gesamten Anlage?

Linchevski: Ich würde es eher als eine digitale Karte bezeichnen. Diese digitale Topologie setzen wir in Verbindung mit unserem Algorithmus, der den ständigen Datenfluss der Feldgeräte permanent auswertet und analysiert. In der Praxis können wir dadurch Anomalien isolieren und mit Hilfe des digitalen Modells aufzeigen, ob sie auf ein spezifisches Problem hinweisen.

Ist das der Kern von Precognize?

Linchevski: Genau. Die Kernkompetenz der Technologie ist es, prädiktiv aus tausenden Feldgeräten die Komponenten zu identifizieren, die in Zukunft überprüft, ausgetauscht oder repariert werden müssen.

Wie viel KI steckt in Precognize?

Linchevski: Das System basiert auf einem Algorithmus, der die Anomalien zuordnet und sie in Beziehung zu bestimmten Feldgeräten setzt. Bevor er dazu in der Lage ist, müssen wir ihn mit historischen Datensätzen trainieren. Auf dieser Grundlage erstellt unser Algorithmus dann sog. Normality-Cluster. Er steckt sozusagen die Grenzen des Normalbetriebs immer detaillierter ab und kann so neu auftretende Störungen oder Ausfälle schnell und zuverlässig identifizieren. In einem zweiten Schritt können wir dann auf Grundlage des digitalen Anlagenmodells die Anomalien zuordnen und mittels einer HMI-Schnittstelle visualisieren.

Sie transformieren also die Anomalien in sichtbare Probleme.

Steckenreiter: So könnte man es sagen. Durch die Lösung dieser Probleme können Sie mit dieser Technologie Ihre Anlage nachhaltig optimieren, weil Sie durch die topologische Verknüpfung vorher unbekannte Abhängigkeiten zwischen Feldgeräten und Maschinen erkennen und zukünftige Fehler im Anlagenbetrieb vermeiden können.

Linchevski: Darüber hinaus lernt die Technologie bei jeder neuen Anomalie dazu und fordert das Feedback des Betreibers ein, um sich weiterzuentwickeln. So lernt das System durch jeden Störfall unabhängig von der Art der Feldgeräte etwas dazu.

Das System ist nicht auf bestimmte Feldgeräte zugeschnitten?

Steckenreiter: Nein, das System kann unabhängig von den zu überwachenden Devices eingesetzt werden. Sie können damit Sensoren, Ventile, Pumpen oder ganze Anlagen mit mehreren Tausend Feldgeräten unterschiedlichster Güte überwachen. Die Methodik unterscheidet sich nicht.

Widl: Ein weiterer Vorteil ist, dass verschiedene Arbeitsgruppen unterschiedliche Teilbereiche des Tools nutzen können. Sie können z. B. dem Service-Team für Sensorik im HMI nur den Sensor-Monitor zur Verfügung stellen, während das Ventil-Team beispielsweise nur den Ventil-Monitor zu Gesicht bekommt.

Bedeutet unabhängig von der Art der Feldgeräte auch unabhängig von einer bestimmten Semantik?

Linchevski: In jedem Fall. Wir müssen die Sprache des Kunden sprechen, sonst würde die Software schlicht nicht akzeptiert werden. Bei der Erstellung des digitalen Modells und auch bei der Analyse sind wir daher nicht auf spezielle Semantiken beschränkt, denn unsere Software unterstützt alle gängigen Maschinensprachen.

Kann Precognize auch das verbindende Element zwischen den vielen „Systeminseln“ einer Anlage sein?

Linchevski: Ja, das ist durchaus denkbar. Im Grunde ist dies auch keine technologische Fragestellung, sondern eher abhängig vom Geschäftsmodell. Mit Precognize können wir sehr viele Informationen in Beziehung setzen und schaffen so viele Möglichkeiten, die wir aber erst in einigen Jahren vollends ausnutzen können. Wir stehen hier noch am Anfang der Entwicklung.

Wie wird Precognize in einigen Jahren aussehen? Wie sieht die Roadmap aus?

Linchevski: In Zukunft erhoffen wir uns, mit Precognize neben vorausschauender Wartung auch Presricptive Maintenance anbieten zu können. Das wäre die nächste Stufe unserer Evolution. Wenn das System also eine Anomalie erkennt, kann es den Fehler nicht wie heute nur zuordnen, sondern direkt die entsprechenden Prozesse einleiten.

Chen Linchevski

ist Mitbegründer und CEO von Visual Process. Zuvor war Chen Linchevski CEO von Opcat und leitenden Positionen bei Ayeca, die sich auf die Analyse und das Design komplexer Geschäftsanalysen spezialisiert haben. Er studierte Rechtswissenschaften an der Hebräischen Universität in Jerusalem.

Dr. Andreas Widl

ist seit 2013 Mitglied des Vorstands und seit 1. April 2015 Vorstandsvorsitzender der SAMSON AKTIENGESELLSCHAFT. Vor seinem Eintritt bei SAMSON hatte er Führungspositionen bei Mannesmann, GE Capital und dem Schweizer Oerlikon-Konzern inne.

Dr. Thomas Steckenreiter

ist seit dem 1. Mai 2017 Vorstandsmitglied bei SAMSON. Davor hatte führende Positionen bei Endress+Hauser Conducta und Bayer Technology Services (BTS) inne. Darüber hinaus war er bis zu seinem Wechsel zu SAMSON auch im Vorstand der NAMUR tätig.


Dieser Artikel wurde im atp magazin veröffentlicht.

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